Einleitung Zu "6 Im Selbstmord"
Eines schönen Abends saß ich so vor meinem Computer und
irgentwie bin ich dann auf einer deutschsprachigen Selbstmord Seite gelanded.
Ich habe mir mit Interesse die Bilder angesehen, die die Leute
gemalt und eingeschickt hatten, und dann fand ich einen Selbstmord Forum
Artikel, wo jemand fragte, "Sag mal, wie alt seit ihr eigentlich?"
Als ich mir die Antworten ansah, wurde mir richtig schlecht.
Die waren alle SO JUNG.
12, 15, 13, 17 - und da habe ich mich selbst an was erinnert,
das ich nicht vergessen habe, aber über das ich eigentlich noch nie was gesagt
habe. Das ist ein Teil meiner "deutschen Jugend", die ich ja nun rabiat hinter
mich gelegt hatte in dem Moment, wo ich beschließ, "das Heimatland" zu
verlassen.
Ich hab da gesessen, mir eine Zigarette angesteckt, und mir den
Bildschirm angesehen.
Ich habe mich gefragt, ob ich das Recht habe, mit diesen jungen
Leuten zu sprechen.
Ich bin ja nun auf der anderen Seite, einer von den "Feinden",
ein "Erwachsener".
Die sind auf diesem Forum genau um vor solchen Leuten wie mir
wegzukommen.
Aber totzdem wollte ich nicht weggehen, ohne was gesagt zu
haben.
Wer weiß.
Vielleicht ließt es der eine oder die andere. Vielleicht ließt
es ein "Elternteil". Vielleicht ließt es garniemand und ich habe es sowieso nur
für mich selbst geschrieben.
Wer weiß.
Egal ... hier ist:
6 Im Selbstmord
von Silvia Hartmann
Als ich 14 Jahre alt war, habe ich beschlossen, mich umzubringen.
Da war eigentlich nichts tolles passiert, keine grosse Katastrophe, nur das
Übliche. Ich weiss es nicht mehr richtig, aber es mag sein, das es eine Prüfung
war - über Latein oder Mathematik, ich kann mich nicht mehr daran errinnern.
Und ich war auch nicht tief deprimiert oder voller Verzweiflung. Das war
irgentwie dann hinter mir.
Manche Leute schlagen ihre Ehegatten tot, weil sie die Zahnpasta Tube nicht
zugedreht haben.
Aber das ist ja nicht deswegen. Das war ja nur das Letzte, das allerletzte
Sandkörnchen, das aus der Eieruhr runterfiel, und dann war sie ganz lehr und die
Zeit war dann halt vorbei.
Ich glaube, so war das mit dem Lateintest an dem Abend.
Wenn ich da nicht so traurig versagt hätte, und entweder mehr oder die richtigen
Pillen geschluckt hätte, und einen Abschiedsbrief geschrieben hätte, hätte sich
der arme Lateinlehrer wahrscheinlich die Haare ausgerupft und nie verstehen
können, was er denn so furchtbar falsch gemacht hat, wie sowas nur hätte
passieren können.
So ein Kind aus gutem Haus ...
Aber wie gesagt, es war ja garnicht seine Schuld. Er war langweilig, ein
schlechter Lehrer, aber das sind ja die meisten.
Es waren viele Dinge, so eins aufeinander gestapelt, wie so großer Turm aus
Bauklötzen, der immer instabiler wird, desdo höher er geht, und dann kommt halt
der Moment für den allerletzten Stein.
Es waren alle die Verrücktheiten meiner Eltern, die überhaupt keine Ahnung
hatten, wie sich selbst retten sollten oder was los war, nicht mit sich selbst,
nicht miteinander, nicht mit ihren eigenen Leben und Verwandten, ihren eigenen
Grauslichkeiten, und schon gar nicht mit so einem Ausserirdischen, der irgentwie
bei ihnen gelandet war.
Es waren alle die Verrücktheiten eines katholischen Priesters, der seine Finger
und andere Teile nicht von kleinen Mädchen lassen konnte und zur gleichen Zeit
an Jesus beten mußte, weil er einfach selbst total wahnsinnig war.
Es waren alle die Verrücktheiten einer Umwelt, wo Lügen als Wahrheit verkauft
wurden, und Wahrheit nie gesprochen werden durfte und bestraft wurde. Wo die
besten Heuchler die schönsten Geschenke bekamen, wo ein jeglicher Versuch, etwas
wirklich RICHTIG zu machen, zu verstehen, mit Geschrei, Prügeln oder eisigem
Schweigen beantwortet wurde.
Es wahr eine Umgebung aus totalem Chaos das einfach immer schlimmer wurde, wo
nichts mehr irgent einen Sinn machte, und wo einfach garnichts mehr war, an dem
sich einer noch festhalten könnte.
Irgentwann kam dann mal der Punkt, wo auch der geliebte Teddy nicht mehr helfen
konnte, und ich habe einfach aufgegeben, und beschlossen, da nicht mehr
mitzuspielen.
Es war eine richtige Erleichterung.
Ich errinnere mich gut daran. Da war eine Klarheit und eine Reinigkeit in meinen
Gedanken und in meinem Körper, die ich noch nie erfahren hatte, und ich habe das
alles schön der Reihe nach organisiert, Muttis Valium aus dem Schrank genommen,
die Tabletten entfernt und die Pakete wieder ordentlich lehr hingestellt.
Das war kein "Schrei um Hilfe" oder ein letzter, verzweifelter Versuch, jemanden
dazu zu bringen, mich mal zu fragen, WARUM ich Probleme mit Disziplin habe,
Wutanfälle habe, wie ein Verrückter rauche und trinke, mich immer nur schwarz
anziehe und mir die Seele aus dem Leib schreie mit Musk auf voller Lautstärke.
Das Schreien war vorbei.
Ich wußte, das wenn ich die Tabletten so um 7 Uhr nach dem "Familien Abendessen"
nehme, gut 12 bis 14 Stunden vergehen würden, bevor irgenteiner was merkte, und
ich dachte, das wäre genug.
Also habe ich die dreißig Tabletten in Wasser aufgelöst, sie getrunken und mich
in Bett gekuschelt.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, da war eine Enttäuschung und eine
unglaubliche Traurigkeit in mir - es war, als ob ich alle Kriege, die man
verlieren kann, verloren hatte.
Ich hatte gedacht, das zu Sterben das furchtbarste wäre, die absolute
Kapitulation, aber das wahr falsch.
Die absolute Niederlage, die absolute Kapitualtion war nicht der Tod, sondern
das Leben.
Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich in der Nacht nicht gestorben bin.
Entweder hatte ich die Konstitution eines Elephanten, oder da war was mit den
Tabletten falsch. Vielleicht war die Dosierung falsch angegeben. Es hätte genug
sein müssen, zumindest ein Kopfschmerz oder was, aber an dem grauen Morgen war
ich genauso klar wie in der Nacht zuvor und die Tage lagen wieder alle vor mir -
wie ein graues, grausliches Gummiband, das sich in die Unendlichkeit
hineinstreckte.
Vielleicht war es ein Wunder. Ich glaub es nicht, aber egal, was da passiert
war, es ging dann halt weiter.
Es hat einige Dinge bewerkt.
Ich weiß jetzt, das man Sachen mitmachen kann, die man glaubt, sie wären
komplett unerträglich. Wir können viel mehr Elend aushalten, als wir es glauben.
Jeder von uns. Es ist erstaunlich, aber eine Tatsache für Menschen.
Irgentwie hat mich dieser Abend und diese Nacht auf ein anderes Gleis gelegt.
Von dem Moment an, war ich nicht mehr das Problemkind, sondern mehr ein Besucher,
der sich die Dinge so ansah, die um ihn herum passierten, und sich Notizen
darüber machte.
Als ich älter wurde, fiel mir auch auf, das ich es nicht vergessen habe, wie das
so war als ich ein "verrückter Teenager" war. Die anderen aus meiner Klasse
wurden mehr und mehr wie ihre eigenen Eltern und schienen alles vergessen zu
haben, über das wir je gesprochen haben, im Park mit ner Flasche Whiskey, und
vier Flaschen Rotwein.
Freiheit. Persönliche Vervollständigung. Schönheit. Gut und Böse. Der Sinn des
Lebens und unserer Erfahrungen. Ob Gott wirklich existiert.
Die haben es für Autos und Häuser eingetauscht, und für Berufe, und Urlaube und
neue Küchen.
Aber ich habe nie aufgehört, über diese Sachen nachzudenken, und zu versuchen,
sie irgentwie zu verstehen, herauszufinden, wie Menschen wirklich funktionieren,
und was hier eigentlich los ist.
Es ist 31 Jahre her seit dem Abend, an dem ich aufgab und meine eigene absolute
Kapitulation unterschrieb.
Ich habe selbst zwei Kinder, und habe mit angesehen, wie die versuchen, aus
diesem Wahnsinn, in dem wir tatsächlich alle leben, irgenteinen Sinn zu
erstellen. Ich habe versucht, ihnen soweit wie möglich dabei zu helfen.
Ich schreibe Bücher, und Gedichte. Ich singe. Manchmal stelle ich mich vor einen
Haufen Leute, die alle mal Kinder waren und die alle immer noch genau so nicht
wissen, was hier los ist und erzähle ihnen Geschichten, oder sage ihnen Dinge,
die ICH immer hören wollte, und die mir nie einer gesagt hat.
Von allem, was ich so erlebt, gesehen und gehört habe, habe ich etwas gut
verstanden.
Nämlich, das Menschen immer VERSUCHEN, Dinge zu verstehen und Dinge richtig zu
machen. Irgentwie. Sie arbeiten so hart daran, jeden Tag, und haben so wenig
Hilfe dabei. Es ist alles so HART, und das muss es nicht sein, es geht auch
anders. Menschen sind viel, viel intelligenter und BESSER als das, was wir hir
sehen. Sie haben das Potential dafür - aber die Umgebung, in der sie gefangen
sind, zerstört sie, reibt sie rauh und blutig, wie Sandpapier.
Aber da ist eins, das die Rettung ist - wir können lernen, etwas anders zu
machen. Wir können neue Dinge lernen, mehr verstehen, und unsere Umgebung
verändern. Wir haben viel mehr Macht und Kraft, als wir denken, oder als es uns
beigebracht wurde.
Wir sind viel, viel stärker, als wir glauben.
Nun gibt es 9 Billionen von uns. Wenn jeder einzige nur einen neuen Gedanken am
Tag zustande brächte, dann würde wirklich was mit der Welt geschehen.
Wir können heute, dank Internet, mit anderen sprechen, Gedanken austauschen, und
wir sind nicht mehr mit unseren Elenden allein.
Und was ich dann zum Abschluss sagen möchte ist nicht, das morgen auf einmal
alles besser sein wird, oder wir ins Paradis hüpfen können, weil so ein tolles
Wunder geschehen ist.
Was ich anstelle dessen sagen möchte ist dies.
Es ist NICHT alles verloren, alles vorbei.
Solange noch ein einziger von uns wirklich versucht, etwas zu ändern, etwas zu
lernen, und etwas besser zu machen, gibt es HOFFNUNG für uns alle.
Aber wir sind ja viel, viel mehr als nur ein einziger. Es gibt Millionen von uns,
und wir stehen jeden Tag wieder auf, und versuchen es wieder - jeden Tag und
JEDEN Tag, egal ob wir in einer Großstadt als Bettler in der Ecke liegen, in
einem Hungerlager versuchen, die Kinder am Leben zu erhalten, oder gut genährt
vor unseren Computern hocken.
Menschen, alle Menschen, haben den Drang zu einer besseren Zukunft. Das ist die
Wahrheit, und solange wir uns daran errinnern, und tapfer weitermachen, dann
wird es irgentwann auch mal was.
So ist das, und so war es.
Die Zukunft ist kein graues Gummiband, sondern eine Geschichte, die wir alle
heute mitschreiben. Ich schreibe diese Geschichte mit, seit 31 Jahren, die mir
in der Nacht irgentwie geschenkt wurden, weil ich nicht gestorben bin.
Das ist schon eine seltsame Sache, und damit werde ich nun, "Auf Wiedersehen"
sagen und ich wünsche DIR alles Gute, und viel NEUES, in deiner eigenen Zukunft.
Silvia Hartmann
29.08.2004